Bildungspolitik

Deutschland und das schwere Erbe: 50 Jahre in die Zukunft

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Deutschland und das schwere Erbe – 50 Jahre in die Zukunft

Quelle: Bildungsblog

Hört man den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch laut über eine Sparverordnung für Kitas, Schulen und Universitäten nachdenken, so fragt man sich, ob er sich im Klaren über seine Verantwortung für das Land ist. Entweder erkennt er die massiven Zukunftsprobleme Deutschlands nicht (wodurch er schlichtweg zu inkompetent für das Amt des Ministerpräsidenten wäre), oder aber er will sie nicht sehen (wodurch er seiner politischen Verantwortung nicht gerecht würde und daher ebenfalls als Ministerpräsident untragbar wäre). Kochs Pläne zeugen von einer riesigen Diskrepanz zwischen politischer Gesinnung und (Zukunfts-) Wirklichkeit. Bestenfalls kann man seinen Fauxpas als krassen Egoismus interpretieren, denn es ist schwer zu glauben, ein Politiker seines Amtes wäre tatsächlich so kurzsichtig.

Als Politiker trägt man in besonderer Weise Verantwortung für das gegenwärtige Deutschland ebenso wie für das Zukünftige. Letzteres wird angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krisen gerne vergessen, dabei ist das Deutschland von morgen der Leidtragende der Politik von heute. Und das heißt auch: Unsere Kinder sind diejenigen, die eine an Ignoranz und Egoismus kaum zu übertreffende Politik eines Kochs ausbaden müssen. Dies wird einem spätestens dann schmerzlich bewusst, wenn man sich selbst in der Mutter- oder Vaterrolle wiederfindet, und beginnt, sich ernsthaft Sorgen um die Zeit nach dem eigenen Ableben zu machen. Als Politiker ist man dem Staat stets eine auf Nachhaltigkeit und Zukunft gerichtete Politik schuldig. Warum also plant Koch, der sowohl Politiker als auch Vater zweier Söhne ist, genau dort Einschnitte, wo sie die Zukunft unserer Kinder in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigen, ja ihr zuwiderlaufen?

Vielleicht ist ihm die Zukunft unserer Kinder schlichtweg egal. Vielleicht muss man ihm aber auch einfach nur ins Gedächtnis rufen, wie prekär die Lage tatsächlich ist? Wagen wir einen Blick ins Jahr 2060, das der dann über 100-jährige Koch wahrscheinlich selbst nicht mehr erleben wird.

Demografische Entwicklung:

Das was man in den 90ern mit viel Fantasie noch als “Bevölkerungspyramide” bezeichnete, verdient diesen Namen spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr. In der obigen Grafik, die vom Statistischen Bundesamt erstellt worden ist und eine Bevölkerungsvorausberechnung (unter Annahme bestimmter Faktoren) darstellt, sehen Sie den Altersaufbau der deutschen Bevölkerung aus den Jahren 1950 und 2000 sowie eine Projektion für das Jahr 2060. Unschwer zu erkennen ist, dass sich die Pyramide umdreht: Stellten zwischen 1950 und 2000 die unter 65-Jährigen eine breite Basis dar (90% der Gesamtbevölkerung), so ist diese heute auf 79% geschrumpft. Im Jahr 2060 wird diese Basis voraussichtlich nur noch 66% betragen. Betrachtet man nur die beruflich aktive Altersgruppen der 20 bis 65-Jährigen, also die wirtschaftliche stärkste Gruppe, auf deren Rücken das deutsche Sozialsystem getragen werden muss, so ist die Entwicklung noch erschreckender: 1950 stellte diese noch 60% der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil ist 2010 mit 61% zwar konstant geblieben, aber dieser wird (betrachtet man die gegenwärtige Entwicklung) bis 2060 voraussichtlich auf 50% fallen. Demgegenüber nimmt die Altersgruppe der über 65-Jährigen, die durch das Renten- und Gesundheitssystem das Sozialsystem am stärksten in Anspruch nehmen (müssen), auf 34% zu (von 10% im Jahre 1950). Die Bevölkerung altert, die letzten Jahrzehnte waren schlichtweg zu geburtenschwach.

Jeder potentiell Erwerbsfähige zwischen 20 und 65 wird 2060 daher genau einen Nicht-Erwerbsfähigen (Senioren, Jugendliche, Kinder und Babys) durch das Sozialsystem unterhalten müssen. 1950 und 2010 lag bzw. liegt der Quotient noch bei 0.66. Dies ist eine dramatische Entwicklung, welche unser Sozialsystem vor enorme Herausforderungen stellt. Deutschland ist (auch Dank der Zuwanderung) nicht vom Aussterben bedroht, wohl aber von einer radikalen Umwälzung der Altersschichten.

Wie ist auf die demografische Entwicklung zu antworten?

Machen wir uns nichts vor: Das Sozialsystem ist in seiner jetzigen Form nicht mehr haltbar. Bereits heute spüren wir die Auswirkungen des stark zunehmenden Ungleichgewichts zwischen der Gruppe, die primär in das System einzahlt und jener, die primär vom Sozialsystem unterhalten wird. Einen weiteren wichtigen Faktor haben wir bisher außen vor gelassen: Wenn wir den errechneten Quotienten von 0.66 oder 1.0 betrachten, so liegt diesem der Anteil der potentiell Erwerbsfähigen zugrunde (die Altersgruppe von 20 bis 65). Nicht eingerechnet ist hier die Arbeitslosigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit. Rechnet man auch diese hinzu, so erhöht sich der Quotient erneut, d.h. das Ungleichgewicht wird noch stärker.

Wie ist diesem Ungleichgewicht am besten beizukommen? Prinzipiell muss der Beitrag der sozialstaatstragenden Gruppe zum Sozialsystem erhöht bzw. die Entnahme durch die sozialstaatsbelastende Gruppe verringert werden (diese Begriffe dienen der Veranschaulichung und sollen nicht als Wertung verstanden werden!) . Letzteres wäre eindeutig unsozial, wollten wir das Sozialsystem möglichst nah an seiner jetzigen Struktur erhalten (und das sind wir künftigen und heutigen Generationen schuldig!). Die Anhebung des Rentenalters mag eine noch mögliche und notwendige Konsequenz sein – auch eingedenk der steigenden Lebenserwartung. Lediglich eine weitere Möglichkeit böte sich zur Eindämmung der ausufernden Kosten an: Die Verringerung der Gesundheitsausgaben unserer alternden Gesellschaft durch technologisch-medizinischen Fortschritt (A1).

Letzten Endes bleibt aber nur der erste Schritt übrig: Die Erhöhung des Beitrags der sozialstaatstragenden Gruppe zum Sozialsystem. Wie kann dies erreicht werden? Im Grunde haben wir hier zwei Möglichkeiten: (B) wir erweitern die Gruppe, indem wir sie nach unten und oben öffnen, (C) wir stärken die Gruppe in ihrer Wirtschaftsleistung, damit die zusätzlichen Einnahmen die Last des Sozialstaates tragen können.

Eine Erweiterung der Gruppe nach oben geht mit der Erhöhung (B1) des Renteneintrittsalters einher, der sich somit gleich zweifach, wenn auch eher gering auswirken würde. Viel wichtiger wird es aber, Jugendliche möglichst schnell in ein geregeltes und solides Berufsleben einzugliedern (die Gruppe also nach unten zu erweitern, B2). Die Wirtschaftlichkeit des Sozialsystems wird somit durch quantitative Faktoren verbessert. Die vielleicht wichtigste Verbesserung erhalten wir aber erst, wenn (C1) die Wirtschaftsleistung der gesamten Gruppe gefördert wird, wenn es also zu qualitativen Verbesserungen kommt.

Wie sind die vier ausgemachten Ziele (A1, B1, B2 und C1) zu erreichen? Die Antwort ist simpel: durch Bildung.

Durch Bildung (genauer: durch Forschung) können die Gesundheitsausgaben im Zuge medizinischen Fortschritts verringert werden, wenn bessere und günstige Medikamente und Verfahren entwickelt werden (A1).

Durch Bildung (z.B. lebenslanges Lernen und altersgerechte Weiterbildung) kann sichergestellt werden, dass das Potential auch der älteren Arbeitnehmer bis zum erhöhten Renteneintrittsalter genutzt werden kann (B1).

Durch Bildung (Vorschule, Kindergarten und Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und Ausbildung) kann der berufsvorbereitende Lebensweg der Jugendliche so optimiert und gestaltet werden, dass diese in möglichst jungen Jahren zu kompetente und wirtschaftsstarke Arbeitnehmer heranwachsen (B2).

Erst Bildung (und nur sie) ermöglicht es uns, das Sozialsystem unter den sich stetig verschlechternden Bedingungen in einer fairen und tragbaren Grundstruktur beizubehalten. Denn erst durch Bildung werden die nötigen Schlüsselqualifikationen erworben, die wirtschaftliches Wachstum ermöglichen (C1).

Bildung aber bedarf einer immensen Investition – und genau hier begeht Roland Koch einen großen Fehler. Zwar trägt das Abtragen der Staatsschulden auch zur Erhöhung der staatlichen Wirtschaftsleistung bei (nämlich durch sinkende Zinszahlungen), jedoch darf der Rotstift nicht bei den Bildungsausgaben angesetzt werden. Die Bildung kann schließlich nur verbessert werden, wenn konstant und möglichst bald in sie investiert wird – ihre positiven Auswirkungen machen sich erst nach Jahrzehnten in einer verbesserten Wirtschaftsleistung bemerkbar.

Ja, Bildung k0stet immens viel Geld. Und das Investitionsvolumen darf nicht geringer werden, um den sich ändernden Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Die Investitionsbereitschaft muss daher eher steigen als stagnieren (geschweige denn sinken, wie es Koch umzusetzen plant!). Es ist deshalb völlig unverständlich, warum Herr Koch am falschen Ende sparen möchte. Der Spiegel spricht zurecht von einer Kriegserklärung an die Jugend, die so schnell zur Kriegserklärung an die Senioren wird, nämlich dann, wenn die Jugend (bzw. die erwerbsfähige Altersgruppe) die Ausgaben jener nicht mehr bezahlen kann.

Benjamin Franklin hat seinerzeit das Dilemma “Bildung” wunderbar pointiert: “The only thing more expensive than education is ignorance.” Und damit hat er gleich in zweifacher Weise recht, meint die “ignorance” doch sowohl die für unseren Sozialstaat verheerende Unbildung als auch die Ignoranz seitens des Ministerpräsidenten. Alle drei können wir uns nicht leisten.

© Sebastian Felling Bildungsblog.info

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